Kleine Wortgeschichte: Sucht kommt von suchen?

Eigentlich nicht. Im Althochdeutschen bedeutete ’suht‘ Krankheit. Noch heute erkennbar etwa an der Gelbsucht. Das Wort stammt höchstwahrscheinlich vom indogermanischen ’sug‘ für ’saugen‘. Das würde zu vorwissenschaftlichen Vorstellungen von saugenden Dämonen als Krankheitsursachen passen. Der heute verwendete Begriff ‚krank‘ bedeutete bis zur Neuzeit eher schwach oder gebrechlich. ‚Gesund‘ stand entsprechend für stark oder rüstig.
Ab etwa 1500 erfährt die Sucht im Deutschen einen Bedeutungswandel vom wertfreien Leiden hin zu lasterhaften Gier: Geldsucht und Gewinnsucht waren wohl mit die ersten Süchte, mit denen ein um Selbstkontrolle bemühtes Bürgertum zu kämpfen hatte. Bald folgten Rachsucht und natürlich Geilsucht. Mit Spielsucht und Freßsucht erschien auch bald die Trunksucht. Aber es waren immer Laster gemeint, also weniger Krankheiten als zwanghafte, antisoziale Verhaltensweisen. Im Dreißigjährigen Krieg etwa grassierte die Mordsucht ganz fürchterlich.
Schließlich erfindet die deutsche Romantik die Sehnsucht. Damit wird Sucht endgültig zum Gemütsleiden. Der Volksmund verknüpft sie jetzt lautmalerisch mit hoffnungsloser Suche. Die Geburt der Rauschmittelsucht steht kurz bevor. Passenderweise genossen die führenden Romantiker Novalis und Ritter gern Opium. Trunksucht und Opiumsucht sind seit Anfang des 19. Jahrhunderts gebräuchliche Begriffe. Der Brockhaus (Das Wikipedia der Deutschen vor Wikipedia) kennt aber erst seit 1936 Rauschmittel-Süchte. Der Begriff erfährt bald wieder eine Inflation für alle möglichen unerwünschten Verhaltensweisen. Der moderne Mensch kann – oder soll? – nach allem und jedem süchtig werden: Kaufen, Laufen, Arbeiten, Fernsehen etc. pp. Die Magersucht ist übrigens ein Kind der fetten 50er Jahre. Die Sucht ist also ein schwammiger Begriff, den heute Medizin und Sozialpolitik mit Eifer auswringen.
Übrigens können nur wir Deutschen krankhaft süchtig nach etwas werden. Unsere germanischen Sprachnachbarn begegnen Alkohol und Drogen aus eigenem Blickwinkel. Der höfliche Engländer drückt mit ‚addiction‘ eigentlich seine ‚Ergebenheit‘ aus. Für den Schweden blieb das alte Wort ’suht‘ als moderne ’sjukdom‘ stets die Krankheit, die Sucht ist ihm dagegen heute ein ‚begär‘. Der Niederländer nennt eine Sucht nüchtern treffend ‚verslaafdheid‘, Versklavung.

Dieser Artikel beruht auf Michael Masters Magisterarbeit „Ist Sucht eine Erfindung der Moderne?“ Hier auf WordPress veröffentlicht, mit detaillierten Quellenangaben und übrigens sehr angenehm zu lesen. Zusammengefasst wurde das 3. Kapitel „Etymologie und Entwicklung des Wortes Sucht“, beginnend hier.
AW, mit freundlicher Genehmigung des Autors

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Nunc est bibendum: Schon die alten Römer konnten sich stilvoll und gut gelaunt zu Tode saufen. Für eine anständige Alkoholsucht aber fehlten ihnen noch die richtigen Worte.

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