Weltflucht ins Paradies – Buchbesprechung „Der Strand“ von Alexander Garland

Wir lasen jüngst “Der Strand” von Alexander Garland. Der Roman wurde ziemlich bald nach Erscheinen auch verfilmt, ziemlich prominent sogar, mit Leonardo DiCaprio. Der Film ist aber völlig an uns vorbeigegangen, deshalb sei hier ausschließlich von dem Buch die Rede. Das ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch noch interessant. Garland beantwortet darin ziemlich präzise folgende Fragen: Was wäre, wenn man mit netten Menschen auf einer einsamen Insel lebt? Und was könnte dabei schief gehen? Am geheimen Strand wird der Backpacker-Traum vom einfachen Leben in den Tropen durchexerziert. Nicht zum ersten mal in der Literaturgeschichte und vielleicht auch nicht die beste Version in den Fußstapfen von Defoe, Golding und Conrad. Als Abenteuer aus einem Land vor der Zeit der Smartphones aber recht flott und direkt geschrieben und sauber konstruiert. Die Übersetzung ist in Ordnung, der deutsche Text ist jetzt keine klingende Poesie, aber die Sprache ist authentisch, wie ein Mittzwanziger mit nachträglich erwachendem Verantwortungsgefühl eben so über seine wilde Jugendzeit denken könnte. Und in diesem Erzählduktus schreitet die Geschichte beständig voran. Es war nicht so spannend, dass wir es in einem Zug verschlungen hätten. Aber lebendig genug, dass auch nach ein paar Tagen Lesepause der Wiedereinstieg leicht fiel. Mehr braucht man nicht zu verlangen, dabei durchaus bemerkenswert: Obwohl über weite Strecken nicht wirklich viel passiert, behält die ganze Geschichte trotzdem die flirrende Spannung eines richtigen Thrillers.

Und dabei ist noch eine schöne Charakterisierung des Menschentyps “Backpacker” gelungen. Ein sehr selbstkritischer Ich-Erzähler berichtet aus seiner Erinnerung von jugendlich-sorgloser Weltenbummelei ohne jede Rücksicht auf irgendwelche Konsequenzen. Er findet nämlich andere Weltenbummler, die ihr Paradies gefunden haben und da für immer bleiben wollen. Das macht den Strand zur Pflichtlektüre, gar nicht mal primär für Drogenpolitiker, sondern für jede Art von Weltflüchtlingen. Dargestellt ist die märchenhafte Kulisse für alle, die vom permanenten Ausstieg träumen.

Garlands Neohippies sind dem Paradies schon ziemlich nahe gekommen. Sie leben den Aussteiger-Traum ohne theoretischen Unterbau. Die Darstellung wirkt ziemlich realistisch, auf der Tropeninsel ohne Regierung entfaltet sich ein erstrebenswert beschauliches, auf angenehme Art eintöniges und dabei aber durchaus arbeitsreiches Leben.

Im Buch gibt es aber natürlich auch das ernüchternde Erwachen mit einer präzisen Analyse, warum es mit dem Paradies nicht klappt und auch gar nicht klappen kann. Mit dem Paradies ist es bekanntlich so ähnlich wie mit dem Himmel: Wer einmal drin, ist kommt nicht wieder um davon zu erzählen und wer wieder kommt, war nicht wirklich drin.

Der gemeinschaftliche Ausstieg geht also schief, trotz viel guten Willens. Das Inselexperiment scheitert ein wenig an menschlichem Dünkel und an mangelnden Ressourcen. Vor allem aber an fehlenden Regeln und Strukturen. Ein gesundheitlicher Notfall tritt ein, die Gruppe – von Gemeinschaft kann man da eben genau nicht sprechen – kann aber nicht reagieren. Medizinische Versorgung ist nicht erreichbar, auch weil niemand die Außenwelt kontaktieren will. Es gibt keinen Notfallplan, weil alle genau vor solchen gesellschaftlichen Verbindlichkeiten geflohen sind und es niemals offiziell besprochen haben.

Die Strandgesellschaft kennt keine Verfassung und keine Notfallpläne. Da es keine Gemeinschaft ist, kann sich auch keine einheitlich Stimme und damit auch kein offizielles Denk- und Planungsvermögen entwickeln. Es gibt nur in dunklen Ecken mündlich geflüsterte Geheimdiplomatie. Die einzelnen Bewohner sind Atome, die mit ihren Ängsten allein bleiben. Ungewollt und unausgesprochen, gibt es dabei trotzdem Hierarchien. Es gibt ein informelles Häuptlings-Ehepaar, die Bewohner zerfallen in Kasten aus Gründungsmitgliedern, Handverlesenen und später Dazugekommenen. Hinter den beiden Häuptlingen wiederum bilden sich Parteien.

Die Nachteile der Zivilisation kamen also mit auf die Insel, die Vorteile, nämlich klar verfasste Regeln, verwoben zu einem stabilen, sozialen Netz, dagegen nicht.

Der Strand ist dabei auch das Urbild einer Protogesellschaft am Scheidepunkt. Hätte es keine romanhafte Katastrophe gegeben, hätten sich die Insulaner bald eine Verfassung geben müssen. Die Ausgangslage ließe verschiedene Modelle denkbar erscheinen. Von der geschlossene Sekte über die halboffene Kommune mit geregelter Außen- und Zuwanderungspolitik bis hin zu einem kommerziellen Hotel-Ressort. Letztere, von echten Dropouts gehasste Entwicklung aber käme der Realität am nächsten.

Rindvieh

Auch in Tropenparadiesen ist, wie eigentlich überall, ständig mit Rindviehchern zu rechnen

Die Realität in den Tropen

Der Strand von Garland liegt in Thailand. Dort eine einsame Insel zu finden, ist nun relativ unwahrscheinlich. Auch im Buch kommt der Strand absolut unerwartet, nennen die Protagonisten doch Thailand das Land der ausgelatschten Pfade. Thailand ist ein Agrarland, mithin also ein einziges Dorf. Und in einem Dorf breiten sich Gerüchte bekanntlich schneller aus, als jede moderne Telekommunikation. Da bleibt nichts unbeobachtet und jeder Quadratzentimeter des scheinbar unberührten Dschungels ist von den Nutzern und Rechteinhabern eifersüchtig bewacht.

Sich verstecken ist dort unmöglich. In den 1980ern konnte man freilich recht bequem aussteigen und manche dieser Aussteiger sind noch immer da. Diese Menschen sind heutzutage Hotelwirte oder Privatiers. Die echten Inselkommunarden in Thailand sind heute Häuptlinge über 10 oder 20 Strohhütten voll temporärer Indianer. Die besseren Kommunarden und Spätaussteiger leben in schicken Bungalows als unumschränkte Herrscher ohne Volk. Und sie hassen einander leidenschaftlich, während der Saison lästern sie mit den Gästen über die Nachbarn, in der Nebensaison lästern sie mit Nachbarn über die Gäste oder gehen einander leidenschaftlich aus dem Weg.

Die Häuptlinge sind überraschend oft Frauen, genau wie im Roman. Liegt das vielleicht an weiblicher Zähigkeit, zu bleiben und nicht bei Schwierigkeiten den Rucksack zu packen und weiterzugehen? Oder doch eher an einer Besonderheit thailändischen Rechts. Ausländer dürfen dort kein Land erwerben. Weiße Männer gelten traditionell als Geldbringer und Betrugsopfer. Ein thailändischer Macho mit einer weißen Frau dagegen kann nicht weglaufen sondern muss sich um das Anwesen kümmern.

In Thailand geht das nicht

Garland hat sehr treffend dargestellt: Aussteigen geht nur auf den Ruinen der Kolonialreiche. Der Ausstieg klappt freilich nur mit Devisen in einer schwachen Wirtschaft eines Entwicklungslandes. Sich ohne Erwerbsarbeit der Selbstfindug widmen geht nur in einer wirtschaftlich und kulturell zerstörten Gesellschaft. Südostasien – und auch das formal unabhängige Thailand – gehören nunmal England und Frankreich und den beerbenden USA. Wir Deutschen werden da immer nur Gäste sein und können die Gegend niemals so ausnutzen und verwohnen, wie Menschen, die sie als ihr natürliches Eigentum betrachten.

Aber der Ausstieg kann klappen

Und wir Deutschen haben die perfekten Vorraussetzungen dafür direkt vor der Haustür. Auf einen Platz an der Sonne gibt es keinen Rechtsanspruch. Unser natürlicher Platz für Ausbeutung und Unterdrückung läuft bekanntlich entlang des nebeligen Ostseestrandes. Dank globaler Flurbereinigung liegt unser Kolonisierungsraum mittlerweile übersichtlich geordnet zwischen Elbe und Oder. Engländern steht ein zur dritten Welt zerrüttetes Empire zur Verfügung. Als Deutsche können wir uns auf einer starken Volkswirtschaft ausruhen. Wir machen das hier in Berlin seit den sechziger Jahren und die fleißige Deutsche Volkswirtschaft ernährt uns – warum, das wissen wir nicht. Vielleicht weil es ihr Spaß macht, oder weil sie meint sie müsste das – Pflichterfüllung scheint diesen Leuten eine innere Befriedigung zu verschaffen. Und mittlerweile auch, weil sie glauben, sie bräuchten eine repräsentative Hauptstadt, geben deutsche Steuerzahler immer wieder Geld für Renovierung, während wir das versaufen und verwohnen. Man muss ein reiches Land um sich haben und es müssen genügend Schnorrer zusammen sein. Dann können wir das Hungertuch in die Soßentöpfe tunken und beim Nuckeln genug Sog entwickeln, dass der Strom aus Steuergeldern nie aufhört. Dieser Passus steht irgendwo in der Verfassung der Aussteigerkommune Groß-Berlin.

Doug

Backpacker auf einer Palliativstation in Bangkok