Die andere Seite – Buchbesprechung

Ein merkwürdiges, kleines Büchlein flimmerte jüngst über unsere Redaktionsmonitore: Die andere Seite. Der Zeichner und Übersetzer Alfred Kubin schrieb es vor gut einhundert Jahren, irgendwann um 1909. Es handelt von einer Anderswelt, die irgendwie ganz anders ist, als man sich eine Anderswelt gemeinhin vorstellt.

Den Namen Kubin nun kannte ich bis dahin noch nicht. Das hätte ich vielleicht sollen, wenn man die Kenntnis eines gewissen Kanons der Kultur für Notwendig hielte. Denn Kubin ist eine Persönlichkeit, unter anderem am Blauen Reiter beteiligt war. Von dem nun habe ich schon mal gehört, ohne genau zu wissen, was das ist oder war, auf jeden Fall hatte der Reiter mit Malerei zu tun. Ich könnte mir aber kein Bild der der Beteiligten vor Augen rufen, denn mein Metier sind nicht so sehr die Bilder als vielmehr das geschriebene Wort.

Jetzt aber Alfred Kubin

Der hat neben unzähligen, düsteren Zeichnungen eben auch dieses kleine Büchlein geschrieben. Es handelt vom Leben in einer putzigen, kleinen Traumstadt bis zu ihrem allgemeinen Zusammenbruch in einer Art Zombie-Apokalypse.

Die andere Seite habe ich auf jeden Fall sehr gern gelesen, ein Woche lang hat mich die Traumwelt gut unterhalten. Es war nun aber auch kein Buch von der Sorte, die man als großartigen Lesegenuss bezeichnen will. Es ist einmal, das muss man sagen, keine große Literatur. Wenn man über gruselige Geschichten der Moderne redet, ist etwa Kafka um Längen besser. Diese flirrende Spannung in drückender Athmosphäre bekommt Kubin nicht hin. Der Text vibriert noch nicht. Wäre Kubin Schriftsteller gewesen, hätte er das Stück zu etwas feinem gefeilt, denn seine Geschichte ist durchaus ein Rohdiamant. Ich würde es got(h)isch im besten Sinne nennen, wie der Baustil. Lauter Seltsamkeiten übereinandergestapelt ergeben ein bedrohliches Ganzes, das etwas verstaubt daherkommt und aus keiner Perspektive vollständig zu sehen ist. Die andere Seite liest sich ein wenig so, wie wenn einem ein Zeichner im Kaffeehaus sitzend sein nächstes Projekt erklärt.

Im ganzen ist Die andere Seite aber eine sehr gelungene Traumbeschreibung. Die Figuren wirken schemenhaft unnahbar, wie Staffage, der Protagonist dagegen ist innerlich sehr aufgeregt und getrieben von Ungewissheit. Alle Aktion enden in einem skurrilen Nichts, es gibt keine richtige Begründung für die Seltsamkeiten. Die Traumfiguren wissen das und reden darüber. Es gibt sogar ein wenig Sex und viel Gewalt. Aber irgendwie berührt das nicht, denn es liest sich etwas trocken, wie das Drehbuch eines Films.

Groß- und Kleinländerei

Nun kann man bei der Besprechung der Traumapokalypse eines österreichischen Künstlers zur Jahrhundertwende einen ganzen Sack voll Interpretationen auskippen. Nach dem Psychoanalyse und ihre esoterische Überhöhung mit der grauenhaften Jugend des Künstlers abgeglichen wurden, könnte man tief in Politik und Volksseele eintauchen. Das auf eine Alpenrepublik reduzierte, ehemalige Kontinentalreich hat sich für uns Norddeutsche ja als zuverlässiger Produzent von Weltkriegsgründen und Absonderlichkeiten etabliert. Von gekränktem Stolz und verpfuschten Träumen zwischen Düppel und Königgrätz möchten wir da nicht gern reden. Denn als vorurteilsbehafteten Preußen muss uns beim Stichwort Österreich ja eigentlich immer nur die großdeutsche Frage im Ohr klingeln. Egal wie viel Raum im Osten wir uns einverleiben, ohne Habsburg bleiben wir immer Kleindeutschland. Nordische Protestanten möchten das natürlich nicht einsehen und die Habsburger Katholiken wollen nichts davon wissen. Sie wären im großen Deutschland schließlich zu einem unförmigen Anhängsel reduziert.

Was hat das mit Kubins kleinem Horrorstückchen zu tun?

Der Leser entscheide selber, denn auf der anderen Seite gründet ein mystifizierter Heiland eine heile Welt. Er kauft ein nebeliges Tal in Zentralasien, baut eine Mauer drumherum und einen Haufen ausgesucht baufälliger Alptraumhäuschen hinein. Diese Traumstadt bevölkert er dann mit Deutschen. Deren Kleidung und alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs müssen mindestens 40 Jahre alt, besser sogar älter sein. Zusammen spielen die Traumländer dann Gesellschaft in einer zur Zeitkapsel hermetisch abgeriegelten Kleinstadt. Am Ende bricht alles zusammen, die Einwohner werden wahnsinnig und bringen sich gegenseitig um. Ein Narr wer böses, gar politisches dabei denkt. Ach ja, den Untergang initiiert ein traumresistenter Großinvestor aus Amerika. Noch Fragen?

Ja.

Was hat das mit Drogen zu tun?

Mit Drogen jetzt nicht so wirklich viel, mit hochwirksamer Cannabis-Tinktur aber jede Menge. Davon hat Kubin nämlich reichlich genossen, als er die andere Seite schrieb. Im Gespräch mit dem Journalisten Hans-Georg Behr erzählte der Künstler, dass er die Medizin verschrieben bekam und eine Weile sehr ausgiebig davon Gebrauch machte.

Interessanterweise war sich Kubin als Patient der Rauschwirkung wohl gar nicht bewusst. Das ist durchaus realistisch, wenn man bedenkt, dass Cannabis bei täglichem Gebrauch kaum mehr berauschend wahrgenommen wird. „Ich beachtete das nicht so, da ich die Medizin mit meinen Traumgeschichten in keinen direkten Zusammenhang brachte. Ich sprach ja auch nicht mit dem Arzt über meine Visionen.

Behandelt wurde Kubin wegen Krankheitsbildern, die man heutzutage wohl irgendwo zwischen Depression und Traumastörung ansiedeln würde. Seine Kindheit war geprägt vom Tod der Mutter und anschließender Vernachlässigung durch den Vater, der selber wohl mit dem Todesfall nicht gut klar kam. In Wort und Bild thematisiert Kubin Depersonalisierung und düstere Alptraumvisionen. Die sind wirklich sehr düster. Selbst wenn ich sehr viel kiffe, kann ich nicht so malen. Schreiben allerdings auch nicht. Kubin hat sich, erst mit, später ohne Cannabis, ein Leben lang an diesen seinen Dämonen abgearbeitet.

Man kann in dem also Buch lesen, wie die Gedankenwelt von jemandem aussieht, der über einen längeren Zeitraum täglich ein starkes Cannabis-Medikament zu sich nimmt. Man kann aber auch einfach einen Hut Haschöl dampfen, John Coltrane auf den Kopfhörer packen und sich auf die andere Seite lesen.

Hier ist die öffentlich frei zugängliche Online-Version

Bekifft vögeln

Asoziales Dreckspack aus dem Bilderbuch – Hexe Total 2

Gleich zu Beginn dieses Artikels muß ich zu meiner Schande offenlegen, daß ich das besprochene Buch selbst gekauft und von eigenem Geld bezahlt habe. Obwohl viele Arbeiten des tasmanischen Comiczeichners Simon Hanselmann frei im Internet zugänglich sind. Zufällig bin ich in einem Comicbuchladen mit klischeehaft brummigem Besitzer gestrandet. Da merkte ich schon beim durchblättern, daß ich zwar die meisten Geschichten kannte, aber eben nicht alle. Belohnt wurde ich mit 176 Seiten Comiclesevergnügen auf dickem Kartonpapier in angenehmen Pastelltönen. Das Geld gönne ich Hanselmann durchaus. Ich halte ihn für einen großartigen Künstler, schon seine Lehrer glaubten an ihn, wie diese Zeugnisse aus der Schulzeit beweisen. Der Zeichenstil ist minimalistisch, aber die Charaktere sind Extrem plastisch, durch langjährige Aktivität haben sie alle eine Biografie, umfangreicher als die Schulakte eines Problemkindes. Wahrscheinlich beruhen sie sogar auf echten Menschen. Und zwar einem Haufen beklemmend gemeiner und verkommener Subjekte. Sie sind nicht etwa bösartig, sondern, viel schlimmer, völlig abgestumpft und gleichgültig. Sie amüsieren sich, wenn sie sich gegenseitig in ihren Sumpf herunterziehen und festhalten können.

vollpfosten

Grade bei einfacher Sprache und guten Englischkenntnissen muß man eine Deutsche Übersetzung kritisch betrachten. Aber einen ‚Fuckstick‘ als ‚Vollpfosten‘ zu bezeichnen, ist eine gelungene Übertragung dieser lauschigen Lagerfeuerszene.

Die Geschichten drehen sich um eine kleine Hausgemeinschaft und ihren Freundeskreis. Meistens spielen sie im verwahrlosten Wohnzimmer, vor immer gleicher Kulisse von Bong, Eimer und Pizzakartons. Mein Australienkorrespondent, der bisher wegen ausgiebiger Recherche noch keine Artikel abliefern konnte, bestätigte mir die Authentizität der Wohnsituation. In Sidney teilen sich viele junge Leute ein eingeschossiges Haus zur Miete, die Häuser haben, wie im Comic, alle ein kleines Stück Rasen, umgeben von braunem Lattenzaun. Sozusagen englische Arbeiterreihenhäuschen in der Billigvariante aus Presspanholz.

Die Hexe Megg ist die Femme Fatale im Zentrum. Sie wohnt zusammen mit ihrem festen Freund, dem Kater Mogg und dem nicht ganz so heimlichen, aber chancenlosen Verehrer Eule. Ständiger Gast ist Werwolf Jones, Meggs heroinaffiner Exfreund aus Schulzeiten und Drogendealer. Die Konstellation könnte hochexplosiv sein, würden die Beteiligten ihre Emotionen nicht konsequent im Rausch ersticken. Megg versucht die Nebenwirkungen ihrer vielen Psychopharmaka mit Gras und Alkohol zu kontrollieren. Ihr Freund Mogg macht jeden Unsinn mit, bleibt aber etwas undurchsichtig. Als Kater zeigt er sich arttypisch klug, faul und opportunistisch. Gelegentlich stiftet er seine Freunde zu grausamen und demütigenden Streichen an, wenn denen selbst keine mehr einfallen. Die gehen natürlich ausschließlich zulasten von Eule, der fast wie im Stockholmsyndrom in der freiwilligen Gefangenschaft der Hausgemeinschaft ausharrt. Denn er leidet unter Einsamkeit und sehnt sich nach Anerkennung. Sein latentes Alkoholproblem hat er durch Dauerkiffen ganz gut im Griff. Er wird völlig zurecht gemobbt, denn er will sich partout nicht an die harmonische Gemeinschaft der Sozialhilfeempfänger anpassen. Er hat einen Job und will sogar weiterkommen. Auch macht er sich verhaßt, weil er oft vorsätzlich versucht, nachts zu schlafen und tagsüber sinnvolle Dinge zu tun.

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Megg ist nie um Antworten verlegen.

Wie alle Kifferbuden ist auch diese Truppe aus Down Under ein Paradies für alle, die dort Urlaub von ihrem richtigen Zuhause machen können und die Hölle auf Erden für diejenigen, die dort leben müssen. Wer sich für Megg und ihre verwahrlosten Haustiere interessiert, sollte sich auf Hanselmanns Tumblr Girl Mountain ausgiebig einlesen. Die älteren Beiträge aus dem Archiv enthalten nicht nur Fotos von Hanselmann in Frauenkleidern, sondern auch recht lange Comicgeschichten. Wem das gefällt, der sollte die 25 Euro, die ein Buch kostet, sinnvoll in Gras oder eine Flasche Schnaps investieren und weiter im Internet Recherchieren.

Kif-Stories von Mohamed Mrabet und Paul Bowles

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Irgendwo las ich mal, es sei urheberrechtlich bedenklich, das Foto eines Buchtitels aus Privatbesitz zu veröffentlichen. Das würde mich zwar nicht weiter kümmern. Aus Spaß jedoch stellte ich den Titel von M’hashish mit eigenen Mitteln sinngemaß nach.

Als Jugendlicher las ich „M’hashish“ vom marokkanischen Erzähler Mohamed Mrabet. Es elektrisierte mich, lange trug ich es als Kiffer-Bibel vor mir, schließlich brachte es mir meine Lieblingspfeife nahe. Das Buch ist total verkifft, eben M’hashish, was wohl verwirrt, zugedröhnt, oder lautmalerisch: vermatscht bedeutet. Aber die Droge spielt keine Rolle, sondern ist Selbstverständlichkeit, so wie Dosenbier für Bukowski. Mrabet ist ein besonderer Autor, der auf ungewöhnliche Art veröffentlicht. Der Übersetzer, Bowles steht gleichberechtigt neben Mrabet auf dem Umschlag. Bowles übersetzte nicht nur, er schrieb, während Mrabet die Geschichten erzählte, im Dialekt, der keine Schrift hat. Ich forschte mit bescheidenen Mitteln als Schüler ohne Internet. Ich entdeckte zwei weitere Bücher von M’rabet/Bowles. Dann las ich „Himmel über der Wüste“ von Bowles und verlor das Interesse an weiteren Nachforschungen. Der Schriftsteller Bowles beeindruckte mich nicht.

M’hashish ist eine Sammlung kurzer Geschichten über Rif-Berber, die auf dem Land ihr Hanffeld bestellen, meist aber in der Vorstadt leben im Marokko der Endphase französischer Kolonialherrschaft. Mit saftigem, außerehelichem Sex direkt in der ersten Erzählung beweist das Autorengespann sein können. Es geht oft um Sex bei Mrabet, aber nie um Liebe, nur um Macht. In diesem Fall demütigt die Frau ihren Ehemann. Entgegen aller Vorurteile ist der Ehebruch für die konservativen Moslems aber eine Kleinigkeit, die bei ein paar Kifpfeifen bereinigt ist. Sterben muß in M’hashsish einzig ein gemeiner Dieb, der einem Hanfbauern die Ernte klauen will. Es gibt halt gewisse Grenzen. ISBN-13: 978-3922708490

Harmlose Gifte, verzeihliche Sünden: Im Grunde eine ähnliche Geschichtensammlung, aber komplett in einer märchenhaften vormodernen Welt angesiedelt. Es geht um die Abenteuer des Hadidan Aharam, eine Art rustikaler Eulenspiegel, mit gefülltem Kifbeutel und geschulteter Axt. Leute, die seinen Zorn erregen, müssen geköpft werden. Aber sonst geht es lebensfroh zu: Mal hilft er jungen Bräuten beim Ehebruch, böswillige Feinde werden betäubt und vergewaltigt, mit der Frau eines hohen Herren muss er auf dem Marktplatz die Vor- und Nachteile des Analverkehrs diskutieren. Seinen Lebensunterhalt verdient sich Hadidan indes mit kleinen Betrügereien und Hinterlist. ISBN-13: 978-3875122053

Mohammed und Mina, ein ausgewachsener Roman, schließlich ist überhaupt nicht heiter. Es wird ja auch nicht viel gekifft. Mrabet erzählt die grauenhafte Geschichte eines jungen Mannes, der als Hausangestellter eines Amerikaners für dessen leibliches Wohl sorgt, bei Tisch und im Bett. Mit dem üppigen Verdienst versucht er, eine bürgerliche Existenz aufzubauen mit Frau Mina und bald einem Sohn. Mohammed jedoch ist emotional zerstört, die anfänglich zauberhafte Liebe entgleitet ihm schnell, die Ehe gerät zum Krieg. Mohamed wird durch einen Giftanschlag seiner Frau verkrüppelt, er wiederum verstößt Mina, die mit ihrem Kind als Bettlerin endet. Beklemmend zu lesen, vor allem wenn Autor und Protagonist den selben Namen tragen und Mrabet ja Jahrelang bei Bowles als Hausangestellter gelebt hat. ISBN-13: 978-3596146635

Heute zeigt mir Wikipedia, es gäbe es noch viel von Mrabet zu lesen. Und auch Bowles hat noch einige andere Marokkaner übersetzt. Hier eine Kurzbiografie mit weiteren Werken Mrabets.und hier eine Art Interview mit Mrabet in der NZZ von 2012.

AW