Keine Angst im öffentlichen Nahverkehr

bvg-weises-pulver

Sinn aller Werbung ist, im Gespräch zu bleiben. Und da hat die BVG mit ihrer Kampagne alles richtig gemacht, wenn jetzt sogar ich auf meinem Eigenbrötlerblog davon schreibe. Natürlich kommt das Klischee der koksenden Modebranche etwas altbacken daher. Kokain ist im Mainstream angekommen, Banker berauschen sich nur noch an toxischen Papieren und die Modebranche nagt am Hungertuch. Behaupte ich jetzt einfach mal so, ohne einen Kokser, Banker oder Modedesigner zu kennen. Aber genau diese Altbackenheit paßt zu einem Betrieb der öffentlichen Hand.

Ich mag die BVG. Nach dem ich länger in Berlin lebe, sollte ich mich zwar assimiliert haben und müsste, gleich den Autochthonen, wie ein Rohrspatz über die ‚Öffentlichen‘ schimpfen. Aber das ländliche Trauma selten fahrender Linienbusse wirkt lange nach. Es begeistert mich immer noch, daß man in der Innenstadt nirgendwo länger als 10 Minuten wartet, um überall hin zu kommen. Trotzdem ist natürlich nicht alles rosig. Denn die Berliner U-Bahn ist zweifellos auch Paradebeispiel und  Konkretisierung des ominösen Begriffes Angstraum. Eine Zeitlang betrat ich die Öffentlichen nur bekifft. Im Wagen voller merkwürdiger Leute, die bedrohlich vor sich hin starren, redete ich mir ein, daß sei nur eine leichte, drogeninduzierte Beklemmung und folglich reine Einbildung. Derartige Wahrnehmung im nüchternen Zustand aber müssten jeden vernünftigen Menschen in Panik ausbrechen lassen.

Es gibt ja besonders unangenehme Verbindungen. Die U8 etwa, welche die Elendsviertel Neukölln und Wedding in grader Linie verbindet und dabei mitten durch die neue Mitte fährt. Fraglich, ob nun das Lumpenproletariat oder die Boheme abstoßender ist. Die einen ersehnen angstvoll den viel zu weit entfernten Monatsanfang. Die anderen plagt, zu den ubiquitären Geldsorgen, noch die Angst vor zu wenig Beachtung. Aber wer kann schon beurteilen, wer schlimmer dran ist: Einer, der sich vor dem Absturz von ganz unten ins Bodenlose fürchtet, oder jemand, der Angst hat, daß der Aufstieg mißlingt, auf den man sich einen Rechtsanspruch einbildet. Wer dieses Leid in der U8 nicht mehr erträgt, kann zur Ablenkung den florierenden Heroinhandel in der Bahn und entlang der Strecke beobachten.

Dann gibt es natürlich wirklich gefährliche Linien. Wochenends ab etwa 22 Uhr ist, unter anderen, die U1 Richtung Wahrschauer Straße unbedingt zu meiden. Man wird erdrückt von vorgeglühtem Feiervolk, fühlt sich im Geräuschbrei aus alkoholisiertem Spanisch und Englisch fremd in der eigenen Stadt. Und muß Partytouristen anschauen, die meinen, nur weil Berlin eine häßliche Stadt sei, dürfen sich auch Besucher auf das geschmackloseste anziehen. In den Morgenstunden wiederholt sich die Katastrophe in allen Bahnen in umgekehrter Richtung. Da kann man sich leicht im Redeschwall überdrehter Landeier eine ernstzunehmende Gehirnverrenkung zuziehen.

Fühlbar wie abgestandene Luft aber wird die Angst in jeder Bahn, wenn sich nach dem Schließen der Türen eine Stimme erhebt. Bestenfalls ist es eine Fahrscheinkontrolle, welche nach allgemeiner Schrecksekunde manchmal in ein unterhaltsames, kleines Sozialdrama mündet. Wirklich beklemmend aber sind die Bettelmonologe zwischen zwei Stationen, ohne daß der brave Bürger eine Fluchtmöglichkeit hätte. Hier muß man sich um Ignoranz bemühen, der zivilgesellschaftliche Konsens des Wegschauens wird zu einem kollektiven Kraftakt. Ich etwa gebe prinzipiell nur Musikern, gern russischen Schnulzensängern oder Zigeunerbands. Klar, die betreiben Kinderarbeit, aber damit hätten sie Mozarts Eltern auch drangekriegt. Laute Musik erfreut das Herz und vertreibt dunkle Gedanken. Die Bettler aber konfrontieren ungefragt mit den eigenen, ethischen Prinzipien. Die besten dieser Gewissensdienstleister treffen ins Mark menschlicher Gefühle. Manchmal reicht nur der Anblick, wie einer kurz durchatmet und Kraft schöpft, bevor in ausgefeilt choreografierter Liveperformance für ein paar Cent ein gescheitertes Leben zur Aufführung gebracht wird.