Weltflucht ins Paradies – Buchbesprechung „Der Strand“ von Alexander Garland

Wir lasen jüngst “Der Strand” von Alexander Garland. Der Roman wurde ziemlich bald nach Erscheinen auch verfilmt, ziemlich prominent sogar, mit Leonardo DiCaprio. Der Film ist aber völlig an uns vorbeigegangen, deshalb sei hier ausschließlich von dem Buch die Rede. Das ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch noch interessant. Garland beantwortet darin ziemlich präzise folgende Fragen: Was wäre, wenn man mit netten Menschen auf einer einsamen Insel lebt? Und was könnte dabei schief gehen? Am geheimen Strand wird der Backpacker-Traum vom einfachen Leben in den Tropen durchexerziert. Nicht zum ersten mal in der Literaturgeschichte und vielleicht auch nicht die beste Version in den Fußstapfen von Defoe, Golding und Conrad. Als Abenteuer aus einem Land vor der Zeit der Smartphones aber recht flott und direkt geschrieben und sauber konstruiert. Die Übersetzung ist in Ordnung, der deutsche Text ist jetzt keine klingende Poesie, aber die Sprache ist authentisch, wie ein Mittzwanziger mit nachträglich erwachendem Verantwortungsgefühl eben so über seine wilde Jugendzeit denken könnte. Und in diesem Erzählduktus schreitet die Geschichte beständig voran. Es war nicht so spannend, dass wir es in einem Zug verschlungen hätten. Aber lebendig genug, dass auch nach ein paar Tagen Lesepause der Wiedereinstieg leicht fiel. Mehr braucht man nicht zu verlangen, dabei durchaus bemerkenswert: Obwohl über weite Strecken nicht wirklich viel passiert, behält die ganze Geschichte trotzdem die flirrende Spannung eines richtigen Thrillers.

Und dabei ist noch eine schöne Charakterisierung des Menschentyps “Backpacker” gelungen. Ein sehr selbstkritischer Ich-Erzähler berichtet aus seiner Erinnerung von jugendlich-sorgloser Weltenbummelei ohne jede Rücksicht auf irgendwelche Konsequenzen. Er findet nämlich andere Weltenbummler, die ihr Paradies gefunden haben und da für immer bleiben wollen. Das macht den Strand zur Pflichtlektüre, gar nicht mal primär für Drogenpolitiker, sondern für jede Art von Weltflüchtlingen. Dargestellt ist die märchenhafte Kulisse für alle, die vom permanenten Ausstieg träumen.

Garlands Neohippies sind dem Paradies schon ziemlich nahe gekommen. Sie leben den Aussteiger-Traum ohne theoretischen Unterbau. Die Darstellung wirkt ziemlich realistisch, auf der Tropeninsel ohne Regierung entfaltet sich ein erstrebenswert beschauliches, auf angenehme Art eintöniges und dabei aber durchaus arbeitsreiches Leben.

Im Buch gibt es aber natürlich auch das ernüchternde Erwachen mit einer präzisen Analyse, warum es mit dem Paradies nicht klappt und auch gar nicht klappen kann. Mit dem Paradies ist es bekanntlich so ähnlich wie mit dem Himmel: Wer einmal drin, ist kommt nicht wieder um davon zu erzählen und wer wieder kommt, war nicht wirklich drin.

Der gemeinschaftliche Ausstieg geht also schief, trotz viel guten Willens. Das Inselexperiment scheitert ein wenig an menschlichem Dünkel und an mangelnden Ressourcen. Vor allem aber an fehlenden Regeln und Strukturen. Ein gesundheitlicher Notfall tritt ein, die Gruppe – von Gemeinschaft kann man da eben genau nicht sprechen – kann aber nicht reagieren. Medizinische Versorgung ist nicht erreichbar, auch weil niemand die Außenwelt kontaktieren will. Es gibt keinen Notfallplan, weil alle genau vor solchen gesellschaftlichen Verbindlichkeiten geflohen sind und es niemals offiziell besprochen haben.

Die Strandgesellschaft kennt keine Verfassung und keine Notfallpläne. Da es keine Gemeinschaft ist, kann sich auch keine einheitlich Stimme und damit auch kein offizielles Denk- und Planungsvermögen entwickeln. Es gibt nur in dunklen Ecken mündlich geflüsterte Geheimdiplomatie. Die einzelnen Bewohner sind Atome, die mit ihren Ängsten allein bleiben. Ungewollt und unausgesprochen, gibt es dabei trotzdem Hierarchien. Es gibt ein informelles Häuptlings-Ehepaar, die Bewohner zerfallen in Kasten aus Gründungsmitgliedern, Handverlesenen und später Dazugekommenen. Hinter den beiden Häuptlingen wiederum bilden sich Parteien.

Die Nachteile der Zivilisation kamen also mit auf die Insel, die Vorteile, nämlich klar verfasste Regeln, verwoben zu einem stabilen, sozialen Netz, dagegen nicht.

Der Strand ist dabei auch das Urbild einer Protogesellschaft am Scheidepunkt. Hätte es keine romanhafte Katastrophe gegeben, hätten sich die Insulaner bald eine Verfassung geben müssen. Die Ausgangslage ließe verschiedene Modelle denkbar erscheinen. Von der geschlossene Sekte über die halboffene Kommune mit geregelter Außen- und Zuwanderungspolitik bis hin zu einem kommerziellen Hotel-Ressort. Letztere, von echten Dropouts gehasste Entwicklung aber käme der Realität am nächsten.

Rindvieh

Auch in Tropenparadiesen ist, wie eigentlich überall, ständig mit Rindviehchern zu rechnen

Die Realität in den Tropen

Der Strand von Garland liegt in Thailand. Dort eine einsame Insel zu finden, ist nun relativ unwahrscheinlich. Auch im Buch kommt der Strand absolut unerwartet, nennen die Protagonisten doch Thailand das Land der ausgelatschten Pfade. Thailand ist ein Agrarland, mithin also ein einziges Dorf. Und in einem Dorf breiten sich Gerüchte bekanntlich schneller aus, als jede moderne Telekommunikation. Da bleibt nichts unbeobachtet und jeder Quadratzentimeter des scheinbar unberührten Dschungels ist von den Nutzern und Rechteinhabern eifersüchtig bewacht.

Sich verstecken ist dort unmöglich. In den 1980ern konnte man freilich recht bequem aussteigen und manche dieser Aussteiger sind noch immer da. Diese Menschen sind heutzutage Hotelwirte oder Privatiers. Die echten Inselkommunarden in Thailand sind heute Häuptlinge über 10 oder 20 Strohhütten voll temporärer Indianer. Die besseren Kommunarden und Spätaussteiger leben in schicken Bungalows als unumschränkte Herrscher ohne Volk. Und sie hassen einander leidenschaftlich, während der Saison lästern sie mit den Gästen über die Nachbarn, in der Nebensaison lästern sie mit Nachbarn über die Gäste oder gehen einander leidenschaftlich aus dem Weg.

Die Häuptlinge sind überraschend oft Frauen, genau wie im Roman. Liegt das vielleicht an weiblicher Zähigkeit, zu bleiben und nicht bei Schwierigkeiten den Rucksack zu packen und weiterzugehen? Oder doch eher an einer Besonderheit thailändischen Rechts. Ausländer dürfen dort kein Land erwerben. Weiße Männer gelten traditionell als Geldbringer und Betrugsopfer. Ein thailändischer Macho mit einer weißen Frau dagegen kann nicht weglaufen sondern muss sich um das Anwesen kümmern.

In Thailand geht das nicht

Garland hat sehr treffend dargestellt: Aussteigen geht nur auf den Ruinen der Kolonialreiche. Der Ausstieg klappt freilich nur mit Devisen in einer schwachen Wirtschaft eines Entwicklungslandes. Sich ohne Erwerbsarbeit der Selbstfindug widmen geht nur in einer wirtschaftlich und kulturell zerstörten Gesellschaft. Südostasien – und auch das formal unabhängige Thailand – gehören nunmal England und Frankreich und den beerbenden USA. Wir Deutschen werden da immer nur Gäste sein und können die Gegend niemals so ausnutzen und verwohnen, wie Menschen, die sie als ihr natürliches Eigentum betrachten.

Aber der Ausstieg kann klappen

Und wir Deutschen haben die perfekten Vorraussetzungen dafür direkt vor der Haustür. Auf einen Platz an der Sonne gibt es keinen Rechtsanspruch. Unser natürlicher Platz für Ausbeutung und Unterdrückung läuft bekanntlich entlang des nebeligen Ostseestrandes. Dank globaler Flurbereinigung liegt unser Kolonisierungsraum mittlerweile übersichtlich geordnet zwischen Elbe und Oder. Engländern steht ein zur dritten Welt zerrüttetes Empire zur Verfügung. Als Deutsche können wir uns auf einer starken Volkswirtschaft ausruhen. Wir machen das hier in Berlin seit den sechziger Jahren und die fleißige Deutsche Volkswirtschaft ernährt uns – warum, das wissen wir nicht. Vielleicht weil es ihr Spaß macht, oder weil sie meint sie müsste das – Pflichterfüllung scheint diesen Leuten eine innere Befriedigung zu verschaffen. Und mittlerweile auch, weil sie glauben, sie bräuchten eine repräsentative Hauptstadt, geben deutsche Steuerzahler immer wieder Geld für Renovierung, während wir das versaufen und verwohnen. Man muss ein reiches Land um sich haben und es müssen genügend Schnorrer zusammen sein. Dann können wir das Hungertuch in die Soßentöpfe tunken und beim Nuckeln genug Sog entwickeln, dass der Strom aus Steuergeldern nie aufhört. Dieser Passus steht irgendwo in der Verfassung der Aussteigerkommune Groß-Berlin.

Doug

Backpacker auf einer Palliativstation in Bangkok

Fette Ente an Moonshine Whiskey – Buchbesprechung „Fup“ von Jim Dodge

Neulich kam Fup in unsere Redaktionsräume. Fup ist eine Ente und Hauptperson in dem gleichnamigen Buch von Jim Dodge. Fup ist ein heiteres Märchen, das wir mit Vergnügen in zwei oder drei Tagen genossen haben. Fup ist keine große Literatur, es ist ja auch nur ein ganz kleines Buch mit wenig mehr als 100 Seiten, die auch noch von etlichen Zeichnungen, zur besseren Veranschaulichung der Handlung, aufgelockert sind. Aber in ihrer Kleinheit ist Fup eine Perle. In der englischsprachigen Welt ist die 1983 erschienene Geschichte wohl schon eine Art Klassiker. Für deutsche Leser gilt als Qualitätsbeweis, dass Fup von Harry Rowohlt eigenhändig übersetzt wurde. Wir kennen weder Herrn Rowohlt noch Herrn Dodge persönlich. Uns hat einfach die Geschichte gefallen.

Sie ist rau, stellenweise zu häßlich, um sie Kindern vorzulesen, ohne sich als Erwachsener für das Erwachsensein schämen zu müssen. Für Erwachsene wiederum ist Fup oft zu profan.

Die Ente Fup Duck lebt mit dem alten Grandpa Jake und seinem Enkel Tiny zusammen auf einer Farm irgendwo im nördlichen Kalifornien ein relativ einsames und beschauliches Leben. Eigentlich sind sie alle ziemlich Fup duck. Tiny ist verwaist, seine Mutter starb bei einem tragischen Unfall am Ententeich, Tiny wurde als Kleinkind Zeuge des Unglücks. Er wird seit dem von Großvater Jake aufgezogen. Der wiederum scheint für die Kinderaufzucht erstmal nicht besonders gut geeignet zu sein. Er ist bärbeißig, schlecht beleumundet und in unanständig hohem Greisenalter. Der rüstige Mittachtziger verdient sein Geld mit Selbstgebranntem und privaten Pokerrunden, als Hobby sucht er gern Streit.

Wenn die Rolle der fehlenden Mutter ersatzweise von einer Ente ausgefüllt wird, darf der Großvater eben auch eine Schnapsdestille im Schuppen verstecken. Der alte Jake ist angekommen. Er hat immerhin das ultimative Schnapsrezept und mit der Herstellung des perfekten Lebenswassers Aufgabe, Bestimmung, Sinn und Ziel. Frauen haben da keinen Platz mehr, Jakes Geist ist mit Glücksspiel und Schwarzbrennen in Beschlag genommen.

Das Waisenkind gerät dann natürlich etwas merkwürdig. Die Umgebung ist nicht wirklich gesund für ein Kind und der Enkel wächst selbstverständlich zu einem äußerst kauzigen Berg von einem zwei Meter großen Kindmann heran. Seine Tage auf der Farm füllt er aus, in dem er mit äußerstem Ehrgeiz Barrikaden gegen die Aussenwelt errichtet. Aber zumindest hat der Junge einen herzensguten Charakter.

Viel mehr passiert nicht

Trotzdem gibt es genügend Merkwürdigkeiten zu erzählen.

Natürlich saufen sie alle drei permanent ihren Fusel, sonst wäre ihre Existenz ja auch kaum auszuhalten. Grandpa Jake verdrückt täglich mindestens einen halben Liter, er beginnt damit schon nachmittags, unmittelbar nach dem Aufstehen. Er trinkt, um seine Träume in Fahrt zu bringen. Er träumt gern und schläft stets bis Mittags. Tiny trinkt immer nur einen Schluck vor dem Schlafengehen, um die Träume fernzuhalten. Tiny träumt nicht so gern und steht gern früh auf. Die Ente ist in ihrem Konsummuster irgendwo zwischen Grandpa und Tiny einzuordnen. Sie neigt aber eher Richtung Grandpa. Die Ente scheint also ebenfalls eine Träumerin zu sein, obwohl sie, wegen ihrer Verfressenheit, auch früh aufsteht. Sorgen um irgendwas brauchen sie sich nicht zu machen, denn der Schnaps macht sie unsterblich. Ente und Großvater haben Glück und Sinn gefunden. Tiny jagd seinem noch hinterher, er wird es aber finden.

Hier wird also das Märchen vom herzensguten Haderlump erzählt, der versoffene Spieler, der gleichzeitig der richtige Ziehvater für ein bedürftiges Waisenkind ist. Es scheint ein beliebtes Märchenmotiv aus dem amerikanischen Legendenschatz zu sein. Die kalifornische Landschaft bietet dafür ja auch die passende Kulisse, eine Märchenwelt, in der ein Spieler mit Chuzpe sich eine Farm als Lebensgrundlage gewinnen und unterhalten kann. Das Motiv ist uns übrigens leidlich bekannt aus Film und Fernsehen, in vertrackten Situationen gestrandete Menschen, die irgendwie miteinander ihr Glück finden. Die zweieinhalb Männer des Charly Sheen fallen da spontan ein – einem Ashton Kutcher nimmt man den Trunkenbold nicht ab. Sehr anrührend dagegen hat in jüngerer Zeit Bill Murray als heiliger Vincent das Thema sogar auf die Kinoleinwand gebracht.

Der wirklich wahre Experte für verlorene Seelen am Pazifikstrand ist natürlich der große Steinbeck. Steinbeck nun ist gewaltig, echt episch, deshalb auch anstrengend und oft sehr traurig. Die Kinder werden zu früh erwachsen und vor allem Steinbecks Frauenbild ist noch sehr konservativ. Da wüten östlich von Eden männerfressende, scheinbar direkt der Hölle entsprungene Prostituierte. Arme, alte Mütter wiederum versterben auf kräftezehrender Wirtschaftsflucht und müssen ohne Grabstein verscharrt werden in fremder Erde, aus welcher dann zwangsläufig nur Früchte des Zorns wachsen können. Steinbecks Frauen kosten Nerven.

Das tut Fup in keiner Weise. Eine fette, zickige und autoritäre Ente ist nun mal viel beschaulicher und harmloser. Als einzige weibliche Hauptrolle in dem kleinen Märchen funktionert sie. Völlig anders als erwartet, aber erstaunlich gut funktioniert sie. Wer eine Rezension lesen will, die aus den wichtigsten Textstellen besteht, kann sich hier beim Deutschlandfunk davon überzeugen.

Jim Dodge hat mit Fup eine ehrliche Komödie über eine tieftraurige Situation geschrieben. Denn wenn eine Katastrophe erst einmal Alltag geworden ist, kann man darüber lachen. Und an seinem persönlichen Rezept für das Glück feilen. Eine Farm im Nirgendwo und eine Destille sind ein guter Anfang. Viel mehr braucht man auf der Welt nicht zum Glücklichsein.

Enten kämpfen

Betrunken stirbt es sich schöner – Trink- und Leseempfehlung im Dezember

Der Dealer hat endlich vernünftigen Stoff! Ein klarer Brand aus Trauben, den man angenehm auch pur trinken kann. Lange schon suche ich danach.

Gut, die Suche war nicht wirklich intensiv. Wenn ich wirklich Suchtdruck gehabt hätte, hätte ich mich in naheliegenden Stadtvierteln intensiver umsehen können. Aber als Berlin-Zuwanderer bin ich ein dörflicher Charakter und möchte mich nicht gern ohne triftigen Grund aus meiner unmittelbaren Nachbarschaft entfernen.

Auf einmal aber steht da eine Flasche dieser göttlichen Essenz auf dem Regal. Und der Dealer weiß offenbar selber gar nicht so genau, was er da stehen hat. Wenn man nach Traubenbrand fragt, greifen er und seine Angestellten nämlich stets routiniert zu Grappa oder Hefe. Das aber sind keine Traubenbrände, denn sie wurden nicht aus dem reinen, vergorenen Saft destilliert, sondern aus Trester oder Hefetrub, nicht wirklich Abfall, aber doch Nebenprodukte der Weinherstellung. Und der Dealer ist eben ein Weinhändler, die Hauptgeschäftszeit ist nach acht Uhr abends mit nachbarschaftlicher Verkostung. In solcher Runde wird Schnaps eben für gefährlich gehalten und steht eigentlich nur als Deko über den Weinkisten

Sicher, es gibt ganz hervorragenden Grappa, vor allem seit Italiener in den 1990er mit hohen Preisen diese Spirituose für das distinguierte Bürgertum attraktiv machten. Es bleibt aber oft eine Schärfe, die Überwindung kostet oder durch umständlich lange Faßlagerung abgebaut werden muss. Den Traubenbrand dagegen kann man auch Nicht-Schnapstrinkern vorsetzen und hört dann nur: Oh, wie lecker.

Warum aber versteht keiner den Unterschied?

Einmal wird nicht mehr genug Schnaps getrunken. Zum anderen aber hat offensichtlich niemand „Tod in den Anden“ gelesen. Und diejenigen, welche es getan haben, glauben, es ginge um Morde oder Gesellschaftskritik und die üblichen Deutschlehrerprobleme.

Der Inhalt sei kurz zusammengefasst:

Die Geschichte Spielt im Nirgendwo und es passiert in erster Linie gar nichts. Die nicht passierende Handlung spielt in Peru in einer Polizeistation bei einer Wanderbaustelle im Hochgebirge. Die Arbeit auf der Baustelle ist hart und lebensgefährlich, das macht aber nichts, denn es gibt eine Kantine, wo sich jeder jede freie Minute bis Unterkante Oberkante mit Pisco zuschüttet, dem chilenischen Traubenbrand. Das reicht jetzt natürlich nicht für einen Roman, zudem es in diesem Außenposten der Zivilisation praktisch keine Frauen gibt. Aber zum Glück lauert ja, wie stets im Leben, der Tod in jedem Winkel. Nach Regenfällen krachen Steinlawinen die Abhänge hinunter und in der Einöde treiben Terroristen vom maoistischen „Leuchtenden Pfad“ ihr Unwesen und bringen, in Ermangelung echter Klassenfeinde auch alle anderen Andersdenkenden um. Die Terroristen nun tauchen gar nicht auf, machen aber trotzdem allen Angst.

Tatsächlich und konkret sind drei Arbeiter von der Baustelle verschwunden und der eigens aus der Stadt versetzte Polizeioffizier Lituma soll die Fälle aufklären. Dazu findet er sich oft in der Kantine ein und trinkt Pisco, serviert von den Wirtsleuten, dem ambitionierten Ehepaar, Dionisio und Adriana. Praktischerweise avancieren die Schankleute schnell zu Litumas Hauptverdächtigen.

Der Fall bleibt ungelöst

Für die objektive Beweissicherung eher unpraktisch ist allerdings der Umstand, dass es sich um Personifikationen antiker Gottheiten handelt, nämlich den Weingott Dionysos und Ariadne, die Frau mit dem roten Faden. Während der promillelastigen Ermittlungen ergibt sich, dass die Wirtsleute wahrscheinlich in der Kantine Bacchanale veranstaltet haben, bei welchen die versammelte Arbeiterschaft die Verschwundenen als Menschenopfer verspeiste. Der Mensch Dionisio jedenfalls ist überzeugter Anhänger eines alten Indio-Glaubens, demzufolge rachsüchtige Berggeister ständig die Menschen bedrohen und daher besänftigt werden müssen, Menschenopfer beim Straßenbau gehören zur liturgischen Routine. Der Wirt und seine Frau sind nicht nur Priester dieses Kultes, sie sind die personifizierten Götter, archaisch und unbarmherzig, die ganz alte Schule. Die Gnade, mit der Abrahams jähzorniger Gott einst auf das väterliche Menschenopfer verzichtete, ist diesen altvorderen Torheit und Ärgernis, die sie nicht weiter kümmert. Natürlich kommt der Fall zu keinem Abschluss, Humbug und Aberglauben sind schließlich nicht justiziabel.

Der Roman handelt vom langsamen Vordringen der Zivilisation in die Lebensvernichtende Wildnis. Mühselig wird eine Straße in und aus dem Berghang gehauen. Und immer wieder machen Bergstürze die Arbeit zunichte. Dionisios leistet dabei natürlich auch seinen Beitrag zur fotschreitenden Zivilisierung. Er hat von der Küste den echten Pisco gebracht, damit die Arbeiter nicht mehr Fusel aus Trester oder Rum saufen müssen. Der Brand aus dem echten Wein nämlich hat ganz besondere Qualitäten. Die zeigen sich bei erfolgreicher Geisterbeschwörung und außerdem macht guter Brand keinen Kater.

Mario Vargas Llosa ist, als einer der großen südamerikanischen Schriftsteller, Pflichtlektüre für Bildungsbürger. Für oder gegen ihn, je nach Präferenz, spricht sein Bekenntnis zum Neoliberalismus, das macht Vargas Llosa in der sonst eher sozialistisch eingestellten Schriftstellerlandschaft Lateinamerikas zu einer besonderen Persönlichkeit. Als Gegenkandidat von Fujimori hat er sich sogar mit der Berwerbung auf das Höchste Staatsamt Perus politisch eindeutig betätigt. Das behinderte aber nicht seinen Nobelpreis für Literatur.

Fürs Leben lernen mit Literatur

Ungeachtet aller politischen Präferenzen können wir aus dem Buch wichtige Schlüsse ziehen: Schnaps ist das Mittel der Wahl für alle, die mal die Zivilisation hinter sich lassen wollen oder müssen. Als Rohstoff wäre Getreide, zumal ukrainisches, für uns Deutsche dabei aber nicht unbedingt die erste Empfehlung. Es könnte bei der Beschwörung vorzivilisatorischer Geister zu unguten, kulturellen Synergieeffekten kommen. Viel lieber sollten wir uns auf die Verbindungen zur uralten Zivilisation des römischen Reiches und deren staatstragenden Traubensaft besinnen. Schließlich hat sich ja auch unser Erlöser, der sich endgültig zwischen uns und den potentiell Menschenfressenden Rachegott stellte, als Erlöser zu erkennen gegeben, in dem er in der Stunde des Mangels hochwertigen Wein produzierte.

In diesem Sinne wünscht die drogenpolitik allen Lesern betrunkene Weihnachten

Traubenbrand

Die andere Seite – Buchbesprechung

Ein merkwürdiges, kleines Büchlein flimmerte jüngst über unsere Redaktionsmonitore: Die andere Seite. Der Zeichner und Übersetzer Alfred Kubin schrieb es vor gut einhundert Jahren, irgendwann um 1909. Es handelt von einer Anderswelt, die irgendwie ganz anders ist, als man sich eine Anderswelt gemeinhin vorstellt.

Den Namen Kubin nun kannte ich bis dahin noch nicht. Das hätte ich vielleicht sollen, wenn man die Kenntnis eines gewissen Kanons der Kultur für Notwendig hielte. Denn Kubin ist eine Persönlichkeit, unter anderem am Blauen Reiter beteiligt war. Von dem nun habe ich schon mal gehört, ohne genau zu wissen, was das ist oder war, auf jeden Fall hatte der Reiter mit Malerei zu tun. Ich könnte mir aber kein Bild der der Beteiligten vor Augen rufen, denn mein Metier sind nicht so sehr die Bilder als vielmehr das geschriebene Wort.

Jetzt aber Alfred Kubin

Der hat neben unzähligen, düsteren Zeichnungen eben auch dieses kleine Büchlein geschrieben. Es handelt vom Leben in einer putzigen, kleinen Traumstadt bis zu ihrem allgemeinen Zusammenbruch in einer Art Zombie-Apokalypse.

Die andere Seite habe ich auf jeden Fall sehr gern gelesen, ein Woche lang hat mich die Traumwelt gut unterhalten. Es war nun aber auch kein Buch von der Sorte, die man als großartigen Lesegenuss bezeichnen will. Es ist einmal, das muss man sagen, keine große Literatur. Wenn man über gruselige Geschichten der Moderne redet, ist etwa Kafka um Längen besser. Diese flirrende Spannung in drückender Athmosphäre bekommt Kubin nicht hin. Der Text vibriert noch nicht. Wäre Kubin Schriftsteller gewesen, hätte er das Stück zu etwas feinem gefeilt, denn seine Geschichte ist durchaus ein Rohdiamant. Ich würde es got(h)isch im besten Sinne nennen, wie der Baustil. Lauter Seltsamkeiten übereinandergestapelt ergeben ein bedrohliches Ganzes, das etwas verstaubt daherkommt und aus keiner Perspektive vollständig zu sehen ist. Die andere Seite liest sich ein wenig so, wie wenn einem ein Zeichner im Kaffeehaus sitzend sein nächstes Projekt erklärt.

Im ganzen ist Die andere Seite aber eine sehr gelungene Traumbeschreibung. Die Figuren wirken schemenhaft unnahbar, wie Staffage, der Protagonist dagegen ist innerlich sehr aufgeregt und getrieben von Ungewissheit. Alle Aktion enden in einem skurrilen Nichts, es gibt keine richtige Begründung für die Seltsamkeiten. Die Traumfiguren wissen das und reden darüber. Es gibt sogar ein wenig Sex und viel Gewalt. Aber irgendwie berührt das nicht, denn es liest sich etwas trocken, wie das Drehbuch eines Films.

Groß- und Kleinländerei

Nun kann man bei der Besprechung der Traumapokalypse eines österreichischen Künstlers zur Jahrhundertwende einen ganzen Sack voll Interpretationen auskippen. Nach dem Psychoanalyse und ihre esoterische Überhöhung mit der grauenhaften Jugend des Künstlers abgeglichen wurden, könnte man tief in Politik und Volksseele eintauchen. Das auf eine Alpenrepublik reduzierte, ehemalige Kontinentalreich hat sich für uns Norddeutsche ja als zuverlässiger Produzent von Weltkriegsgründen und Absonderlichkeiten etabliert. Von gekränktem Stolz und verpfuschten Träumen zwischen Düppel und Königgrätz möchten wir da nicht gern reden. Denn als vorurteilsbehafteten Preußen muss uns beim Stichwort Österreich ja eigentlich immer nur die großdeutsche Frage im Ohr klingeln. Egal wie viel Raum im Osten wir uns einverleiben, ohne Habsburg bleiben wir immer Kleindeutschland. Nordische Protestanten möchten das natürlich nicht einsehen und die Habsburger Katholiken wollen nichts davon wissen. Sie wären im großen Deutschland schließlich zu einem unförmigen Anhängsel reduziert.

Was hat das mit Kubins kleinem Horrorstückchen zu tun?

Der Leser entscheide selber, denn auf der anderen Seite gründet ein mystifizierter Heiland eine heile Welt. Er kauft ein nebeliges Tal in Zentralasien, baut eine Mauer drumherum und einen Haufen ausgesucht baufälliger Alptraumhäuschen hinein. Diese Traumstadt bevölkert er dann mit Deutschen. Deren Kleidung und alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs müssen mindestens 40 Jahre alt, besser sogar älter sein. Zusammen spielen die Traumländer dann Gesellschaft in einer zur Zeitkapsel hermetisch abgeriegelten Kleinstadt. Am Ende bricht alles zusammen, die Einwohner werden wahnsinnig und bringen sich gegenseitig um. Ein Narr wer böses, gar politisches dabei denkt. Ach ja, den Untergang initiiert ein traumresistenter Großinvestor aus Amerika. Noch Fragen?

Ja.

Was hat das mit Drogen zu tun?

Mit Drogen jetzt nicht so wirklich viel, mit hochwirksamer Cannabis-Tinktur aber jede Menge. Davon hat Kubin nämlich reichlich genossen, als er die andere Seite schrieb. Im Gespräch mit dem Journalisten Hans-Georg Behr erzählte der Künstler, dass er die Medizin verschrieben bekam und eine Weile sehr ausgiebig davon Gebrauch machte.

Interessanterweise war sich Kubin als Patient der Rauschwirkung wohl gar nicht bewusst. Das ist durchaus realistisch, wenn man bedenkt, dass Cannabis bei täglichem Gebrauch kaum mehr berauschend wahrgenommen wird. „Ich beachtete das nicht so, da ich die Medizin mit meinen Traumgeschichten in keinen direkten Zusammenhang brachte. Ich sprach ja auch nicht mit dem Arzt über meine Visionen.

Behandelt wurde Kubin wegen Krankheitsbildern, die man heutzutage wohl irgendwo zwischen Depression und Traumastörung ansiedeln würde. Seine Kindheit war geprägt vom Tod der Mutter und anschließender Vernachlässigung durch den Vater, der selber wohl mit dem Todesfall nicht gut klar kam. In Wort und Bild thematisiert Kubin Depersonalisierung und düstere Alptraumvisionen. Die sind wirklich sehr düster. Selbst wenn ich sehr viel kiffe, kann ich nicht so malen. Schreiben allerdings auch nicht. Kubin hat sich, erst mit, später ohne Cannabis, ein Leben lang an diesen seinen Dämonen abgearbeitet.

Man kann in dem also Buch lesen, wie die Gedankenwelt von jemandem aussieht, der über einen längeren Zeitraum täglich ein starkes Cannabis-Medikament zu sich nimmt. Man kann aber auch einfach einen Hut Haschöl dampfen, John Coltrane auf den Kopfhörer packen und sich auf die andere Seite lesen.

Hier ist die öffentlich frei zugängliche Online-Version

Bekifft vögeln

Anslinger, der erste Drogenkrieger – Buchbesprechung

KaleidoskopischAngeblich kann man ja Bücher rezensieren, die man gar nicht gelesen hat. Heute versuche ich das mal mit einem, das ich jetzt zur Hälfte geschafft habe. Weil die Drogenpolitik ihrem wöchentlichen Rhythmus hinterherhinkt und langsam mal wieder was kommen muss. Aber auch, weil das Buch wirklich gut ist und ich es auf jeden Fall zu Ende lesen werde. Aber schon jetzt gibt es genug, zum Nachdenken.

Alexandra Chasin: Asassin of Youth – A Caleidoscopic History of Harry J. Anslinger’s War on Drugs

Als ich noch von morgens bis abends bekifft war, habe ich mehr und schneller gelesen. Es kann also an mir liegen, daß ich nicht recht voran komme. Aber die Autorin, Alexandra Chasin, benutzt auch eine recht anspruchsvolle Sprache. Das Englisch ist poetisch, verträumt und assoziierend. Oft muß ich im Wörterbuch nachschlagen, weil ich gar nicht glauben kann, daß ich ihre Sätze wirklich richtig verstanden habe. Andere Wörter kamen mir im Leben zum Ersten mal unter. „Bailiwick“ etwa ist kein irischer Slangausdruck für einen Trunkenbold, sondern tatsächlich das Fachwort für „Amtsbezirk“. Ehrlich, ich hab das nachgeschlagen.

Es geht um den Drogenkrieg des Harry Anslinger, den Mann, der praktisch alleinverantwortlich sämtliche heute geltenden Drogenverbote durchgesetzt hat. Eigentlich ein hochspannendes Thema. Die Person Anslinger schien aber leider ein todlangweiliger Bürokrat gewesen zu sein. Die experimentelle Autorin Chasin versucht, sich der Person Anslinger in kaleidoskopischen Bruchstücken zu nähern. Sie macht das in kurzen Kapitel welche für sich angenehme Häppchen sind, die sich erst später zu einem Gesamtbild fügen. Ganz wunderbar gelingt ihr das, wenn sie ein Sittenbild der fortschrittshungrigen amerikanischen Gesellschaft vor und nach Anslingers Geburt 1892 malt.

Weiß noch jemand, worum es bei dem Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ ging? Charles Bronson redet wenig und erschießt Bösewichter im Staub, drei Stunden lang. Aber warum? Es ging um die Eisenbahn und Grundstücksspekulationen. Chasin setzt danach an, in der kleinen Geburtsstadt Anslingers, Altoona, Pennsylvania. Die hat den Staub und das Elend gebändigt unter Bürgersteigen und gepflasterten Straßen, finanziert von der alles beherrschenden Eisenbahn, bei welcher auch Anslinger sein Berufsleben begann und seine Leidenschaften entdeckte: Statistik, Logistik und Werkschutz.

Als  Ulysses-Fan versucht Chasin natürlich auch in die Gefühlswelt des geborenen Verwaltungsbeamten einzutauchen. Das ist interessant, aber wenig spannend, denn Anslinger scheint eine furchtbar unaufregende Persönlichkeit gewesen zu sein. Natürlich deutschstämmig, sogar zu 100% alemannisch, mit badischer Mutter und Schweizer Vater. Wohl konnte er hervorragend Netzwerken und Kommunikation kontrollieren. Vielleicht ein Grund, weshalb er der Nachwelt wenig persönliche Dokumente hinterließ, dafür umso mehr gleichförmiges Material von seinem Propagandafeldzug gegen das Teufelskraut Marihuana. Der beginnt aber erst nach mehr als der Hälfte des Buches.

War Anslinger also Schuld an den Drogenverboten? Nein, hätte er es nicht getan, hätte es ein anderer gemacht.

Prohibition und Drogenverbote waren ziemlich unausweichlich. Es gab offensichtlich Probleme und es gab die Sehnsucht nach Ordnung und Nüchternheit. Die Beschlüsse wurden schon gefaßt, bevor Anslinger in den amerikanischen Finanzbehörden Karriere machte.  Die Amerikaner kannten Opiate gut und lange, seit dem Bürgerkrieg war die Abhängigkeit als „Soldatenkrankheit“ verbreitet. Die ist übrigens noch heute in der Folklore präsent, anders als bei uns Deutschen, die wir seit Hermann Göring gar nicht mehr gern über die Morphinisten in unserer Verwandtschaft reden.

Die amerikanische Soldatenkrankheit aber grassierte ungehindert 40 Jahre lang und beschränkte sich nicht auf kriegsversehrte Schmerzpatienten, sondern griff um sich wie ein ansteckende Seuche. Herd der Ansteckung war das Mittel selbst, unkontrolliert verteilt von profitorientierten Pharmazeuten, viele Menschen litten darunter. Und die entstehende Großindustrie, auch die allmächtige Eisenbahn, bevorzugte nüchterne Angestellte, denn die arbeiteten produktiver. Die Blaupausen vieler Gesetze zum Drogenverbot waren tatsächlich betriebsinterne Verhaltensvorschriften von Konzernen.

Das faktische Drogenverbot, Alkohol eingeschlossen, erfolgte dann in den USA noch vor dem ersten Weltkrieg, über Lokale Verordnungen, die zu Bundesgesetzen führten. Wohl kritisierten schon damals viele Ärzte, das Drogenproblem mit der Strafjustiz anzugehen, denn es würde viele anständige Menschen zu Verbrechern machen, nur weil sie ein wenig Heroinsüchtig seien.

Anslinger und seine Vorgänger aber konnten besonders gut Horrorgeschichten erzählen, mit Sex und neu erfundenen Verbrechen. Die nahm die Regenbogenpresse begeistert ab. Also verwob er medienwirksam Kriminalität, Drogenchaos und vor allem ausländische Bedrohung und positionierte so seine Drogenbehörde in der Öffentlichkeit. Die Drogenseuchen kamen für ihn nicht etwa aus der Mitte der Gesellschaft, sondern wurden von minderwertigen Ausländern, Chinesen und Mexikanern, eingeschleppt. Als Gegenmittel bot er Importkontrolle und strenge Einwanderungspolitik und traf damit den Nerv der Zeit, bis heute.

Wir lernen, ein Drogenverbot bedeutet eine Menge Verwaltungsaufwand. Die landesweite Durchsetzung in den jungen USA ist dabei Lehrstück eines entstehenden Staates. Das ist interessant, auch und grade für uns aufgeklärte Europäer, die wir versuchen, unseren Kontinent zusammenwachsen zu lassen. Der Staat, der versucht, sich durchzusetzen, muss zunächst Daten erheben und so herausfinden, was er eigentlich will. Dann müssen all die die kleinen, widerstrebenden Mächte überzeugt werden. Und dazu muss man vor allem die richtigen Geschichten erzählen. Und unter den Geschichtenerzählern war Anslinger ein großer, denn niemand erinnert sich an ihn, aber seine Märchen wirken weiter.Cover

 

Unter dem Vulkan – Buchbesprechung mit Schnaps

Endlich habe ich es mal geschafft, mir Mezcal zu kaufen. Kost ’n Arm und ’n Bein, aber ist richtig geiler Stoff. Leider kann ich nicht gut Schnäpse besprechen und außerdem habe ich keinen Vergleich, weil das meine allererste Flasche Mezcal überhaupt war. Deshalb stelle ich den Alkohol unten in der Bildzeile vor und verweise für schöne Degustationen auf den Blog von Schlimmerdurst, der ist Mezcal-Fan und hat Ahnung vom Schnapsbesprechen. Ich aber möchte stattdessen hier einen wirklichen Experten für Spirituosen vorstellen. Und zwar den hauptberuflichen Trinker und Konsul Geoffrey Firmin, eine Romanfigur, der einen Tag lang vergeblich versucht, sich mit anderen Alkoholika vom Mezcal fernzuhalten. Denn er weiß, wenn er mit Mezcal anfängt, ist das sein Ende. Der Schriftsteller Malcolm Lowry, selbst ein ausgewiesener Schnapskenner, schrieb das in seinem Welterfolg „Unter dem Vulkan“. Damit erzählte er eben nicht nur eine beklemmend authentische Trinkergeschichte, sondern legte einen extrem vielschichtigen Roman vor, der menschliche Abgründe ausleuchtet und dabei noch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts intelligent analysiert.

Im Vordergrund steht natürlich der Alkoholismus Firmins. Seit England die diplomatischen Beziehungen zu Mexiko abbrach, ist der als englischer Honorarkonsul beschäftigungslos und hat deshalb alle Zeit der Welt, sich in dem kleinen Kurort Cuernavaca zu Tode zu trinken. Bei der brillianten Schilderung dieser Tätigkeit schuf Lowry ein hochgelobtes Beispiel für die Schreibtechnik des Stream of Consciousness. Jedes Kapitel ist vollkommen aus der Innensicht eines der Protagonisten erzählt. Aber längst nicht so verworren wie etwa der Ulysses von James Joyce. Der Text ist ziemlich klar, es gibt eine Handlung. Aber weil sich viel davon im total betrunkenen Kopf des Konsuls abspielt, weiß man nach ein paar Seiten nicht mehr, was da stand. Zumindest ging mir das so, ich war aber auch beim Lesen meistens sehr bekifft. Es wäre unpräzise, zu sagen, Lowry schreibt Bandwurmsätze. Es sind eher lange, verschachtelte Gebilde, die sich schlängeln wie die halluzinierten Raupen auf dem Badezimmervorhang des Konsuls, wenn sie vor den polygonalen Skorpionen flüchten. Wer das Buch nüchtern liest, könnte sich den Spaß machen und mitschreiben, wie viele Drinks der Konsul an seinem letzten Erdentage zu sich nimmt. Dabei hat er die wildesten Abenteuer zu bestehen:
„Ich habe“, sagte er, „da hinten noch einen Feind, den Sie nicht sehen können. Eine Sonnenblume. Ich weiß, sie beobachtet mich, und ich weiß, daß sie mich haßt.“
„Exactamente“, sagte Dr. Vigil, „sehrr möglich, sie wird Sie vielleicht ein bißchen weniger ‚assen, wenn Sie aufhören, Tequila zu trinken.“ „Ja, aber heute Vormittag trinke ich nur Bier“, sagte der Konsul mit Überzeugung, „Sie sehen es ja selbst.“

Der Konsul lügt natürlich. Beim Kampf gegen die Sonnenblume hatte er schon im Geheimversteck mit der Tequilaflasche Deckung gesucht und über den Zaun in den Nachbargarten gekotzt.

Was der große Saint Exupery im kleinen Prinzen in drei Sätze packt, breitet Lowry auf mehr als 400 absolut lesenswerten Seiten aus. Der Konsul trinkt, weil er sich schämt, daß er trinkt. Alle anderen Personen in dem Roman trinken ebenfalls mehr als gesund ist. Und sie haben alle ganz hervorragende Gründe, sich zu schämen. Aber sie bleiben in der Realität, in dem sie Lebensprobleme und Trinkvergnügen nicht mischen. Da ist etwa Yvonne, die Frau des Konsuls, die ihn, getrennt lebend, besucht. Die Ehe der beiden ist ähnlich zerrüttet, wie Verstand und Leber des Mannes. Beim Versuch, das Leben mit dem Trinker auszuhalten, landete sie mit nahezu allen Bekannten des Konsuls im Bett und wurde nicht wirklich glücklich damit.
Auch der Bruder des Konsuls ist mit von der Partie. Er schämt sich, weil er natürlich auch ein Verhältnis mit Yvonne hatte und immer noch total in sie verknallt ist. Und weil er als Salonsozialist nichts gegen den Sieg der Faschisten in Spanien unternehmen kann. Damit gelingt Lowry ein weltumspannender Brückenschlag zur politischen Lage im allgemeinen und zum Zustand des englischen Empire im besonderen. Das ist nämlich am Vorabend des zweiten Weltkrieges völlig ruiniert, wie ein alter, trinkender Hahnrei. Erstaunlicherweise berichtet „Unter dem Vulkan“ nämlich auch ausführlich über die Kriege und alle ihre Gräuel und erwähnt dabei den Namen Hitler nur zweimal in Nebensätzen. Das funktioniert, weil die Handlung im November 1938, während des spanischen Bürgerkriegs spielt. Und es zeigt uns dabei die sehr besondere Denkweise der englischen Kolonialisten. Die ahnten und wußten sogar von den geplanten Völkermorden in Osteuropa. Aber sie denken bis heute nicht gern darüber nach, denn dann müssten sie ja auch über die zig Millionen Opfer nachdenken, die das Empire einfach mit fahrlässig schlechter Verwaltung umbrachte. Außerdem ist es dem alten England vor lauter Trauer überhaupt nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Denn die eigentliche Katastrophe des Krieges ist ja der Zusammenbruch des morschen Weltreiches. In diesem Drama nämlich sind Faschisten nur ein begleitender Chor und es ist letztlich völlig egal, ob sie die Hintergrundmusik auf spanisch, italienisch oder deutsch singen. Und wenn man zufällig in Mexiko gestrandet ist, während man seinem Ende entgegentorkelt, wird dabei halt Agavenschnaps getrunken.

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Wenn der Konsul Mezcal trank, meinte er Bauernfusel, mit dem man sich für ein paar Kupfermünzen totsaufen kann. Mezcal ist Agavenschnaps, ohne die enge territoriale Herkunft des Tequila, der meinst in Kleinstbetrieben hergestellt wird. Wenn so etwas heutzutage auf den Weltmarkt gelangt, dann sind das hochwertige Spitzenprodukte, so wie dieser Reposado von Sangre de Vida. Da die meisten Ausgaben von „Unter dem Vulkan“ einen Totenschädel auf dem Einband haben, eignet sich die Flasche mit imaginären Raupen ganz hervorragend als Bebilderung für die Buchbesprechung. Beim Literpreis von 70 Euro aber wäre das Geld lange verbraucht, während sich die Leber schon wieder regeneriert hat. Der gelbliche Schnaps ist dünnflüssig im Glas, aber leicht ölig im Mund. An schönen Tagen schmeckt er pur schon sirupsüß. Aber wenn ich keine Geduld habe, möchte ich ihn mir geschmeidiger machen. Das exotisch rauchige Getränk regt zum Experimentieren an. Ein paar Spritzer Limette unterstützen die gemüsige Strenge, ein Eiswürfel nimmt die Schärfe, ein wenig Zuckersirup schadet nie. Dann sind auch gerne eine Prise Salz und Pfeffer willkommen, vielleicht sogar ein Basilikumblatt.

Für Literaturinteressierte hat dieser Blog viele Details zur Biografie Malcolm Lowrys zusammengetragen.
Wer lieber ’nen Film schaut, kann hier 45 Minuten lang eine schöne Phoenix-Doku über Mezcal und die Region Oaxaca ansehen. Es wird auch das Geheimnis der Würmer aufgeklärt.

Shed the Monkey! Terence McKenna und „The Archaic Revival“

Zauberpilze sind außerirdische Lebensformen, die per Panspermie auf die Erde kamen und für die Entwicklung von Affen zum Menschen mitverantwortlich sind, sich uns in der Form des UFO metaphorisieren und uns den Weg weisen, wie wir am Ende der Geschichte (nicht der Welt), 2012, den nächsten Schritt zum Überbewusstsein erreichen, mit dem wir uns dann schnell auf den Weg zu den Sternen machen. So, das als Vorabwarnung; wer jetzt noch weiterliest, hat das Recht verwirkt, nachher süffisant zu grinsen. Diesen zugegebenermaßen zunächst etwas wirr anmutenden Gedankengang finden wir in Terence McKennas Buch The Archaic Revival.

McKenna ist eine der wichtigsten Figuren der psychonautischen Bewegung, ein charmanter Philosoph, hypnotischer Redner und mutiger Vorkämpfer eines für viele unbequemen Themas. Heute ist er leider nur noch denen ein Begriff, die sich nicht von der modernen Vorherrschaft der Ordnung, der Rationalität und des persönlichen Gesundheitswahns, also einer Weltsicht, die alles ablehnt, was planbare Wege verlässt, beherrschen lassen wollen. Für uns Psychonauten ist Ethnopharmakologie kein Relikt aus Hippiezeiten, im Gegenteil, sie ist ein Weg für die Zukunft.

McKenna greift in The Archaic Revival, einem seiner wichtigsten Bücher, unglaublich viele Themen auf und setzt sie (zugegebenermaßen hin und wieder etwas gezwungen, manchmal aber auch in unerwarteter, durchaus kluger Weise) in Zusammenhang mit psychedelischen Erfahrungen. Aus aktuellem Anlass finde ich dabei seine Meinung zur Arecibo-Botschaft spannend, nach der eine entsprechend hochstehende Kultur nicht mittels Radiowellen, sondern mittels direkter Telepathie mit uns Kontakt aufnehmen würde, wenn wir bereit dafür sind. Alles andere ist eigentlich eh, schon allein aufgrund der Wartezeiten, zum Scheitern verurteilt. Sind DMT-Visionen solche Versuche der Kontaktaufnahme?

Die Suche nach dem Spirituellen, ein weiteres der wichtigsten Themen McKennas, ist heute für viele aktueller denn je, und in uns irgendwie veranlagt. McKenna, bekennend inspiriert vom buddhistischen Monismus, beklagt den empfundenen Dualismus einerseits, der unsere Seele scheinbar vom Körper trennt, und glaubt, dass wir durch psychoaktive Stoffe diesen Dualismus irgendwann auflösen können und den haarigen Affen in uns ablegen werden.

We are not primarily biological, with mind emerging as a kind of iridescence, a kind of epiphenomenon at the higher levels of organization of biology. We are hyperspatial objects of some sort that cast a shadow into matter. The shadow in matter is our physical organism. (S. 91)

Halluzinogene Stoffe sind laut McKenna das Mittel der Wahl, wenn es um spirituelle Einsichten geht. Ich bin mir sicher, dass der eine oder andere Prophet sicherlich stoned war, als er seine Visionen hatte – doch das anzuerkennen oder sogar nur in Betracht zu ziehen, fällt vielen schwer.

I think there’s a very strong Calvinistic bias against a free lunch. The idea that you could achieve a spiritual insight without suffering, soul-searching, flagellation, and that sort of thing, is abhorrent to people because they believe that the vision of these higher dimensions should be vouchsafed to the good, and probably to them only after death. It is alarming to people to think that they could take a substance like psilocybin or DMT and have these kinds of experiences. (S. 30)

Meine erste Erfahrung mit halluzinogenen Substanzen war im Studentenwohnheim. Ein Komillitone war diesbezüglich recht erfahren, und überredete mich, über die Pizza ein paar getrocknete, übelriechende und noch schlimmer schmeckende Pilze zu streuen. Die Idee dahinter war, einen lustigen Abend zu verbringen. Das wurde es auch, zugegeben – doch für mich war es eine größere Erfahrung, als ich zunächst selbst erkannte. Es war der völlig unerwartete Eintritt in eine andere, neue, höchstfaszinierende Wahrnehmung der Welt. Für McKenna sind Pilztrips auch ganz klar kein Freizeitvergnügen, sondern echte Suche nach der Wahrheit, nach neuen Einsichten, nach einer neuen Stufe des Bewusstseins. Wer nur Spaß haben will, für den ist das „Fleisch der Götter“ nichts.

TM: I think that if you do these things right, they give you plenty to think about. One thing that people do that I’m definitely opposed to is to diddle with it. If you’re not taking so much that going into it you’re afraid you did too much, then you didn’t do enough. Not the way people will take it to go to the movies, go to the beach, this and that. No, I talk about what I call „heroic“ doses and „committed“ doses. And if you only do heroic doses, then every trip will count. (…)
JL: What is a „heroic“ dose of psilocybin?
TM: Five dried grams. Five dried grams will flatten the most resistant ego. (S. 15)

5 Gramm getrocknete psilocybe cubensis sind wirklich eine deftige Menge, und, obwohl es praktisch unmöglich ist, sich an Psilocybin in Pflanzenmasse überzudosieren, haut das wohl jeden völlig aus den Stiefeln, der nicht, wie McKenna, jahrzehntelang experimentiert hat. Nichts für Spieler also, denn die Erfahrung kann den Erfahrenden verändern.

It [Psilocybin] holds the possibility of transforming the entire species [humans] simply by virtue of the information that comes through it. Psilocybin is a source of gnosis, and the voice of gnosis has been silenced in the Western mind for at least a thousand years. (S. 97)

Diese Kommunikation mit der Wahrheit gibt es laut McKenna nur bei Tryptaminen, nicht bei anderen psychotropen Substanzen wie LSD, das McKenna immer als Abklatsch und wenig spirituell im Vergleich sieht. Tatsächlich ist das Konzept des „Anderen“ bei Einnahme von Psilocybin deutlich spürbar, und im Gegensatz zu LSD, das die visuellen Eindrücke hauptsächlich geometrisch darstellt und aus dem eigenen Ego bezieht, fühlt sich ein Pilztrip organischer, fremdartiger an. Ist der Pilz also ein Orakel, das einem Fragen beantworten kann?

I don’t necessarily believe what the mushroom tells me; rather we have a dialogue. It is a very strange person and has many bizarre opinions. (S. 47)

Nun gilt das aber auch für McKenna selbst. Ohne Zweifel ist er ein überzeugter Psychonaut, der in einer unglaublich mitreißenden Weise über sein Thema spricht. Das Problem mit dieser Art der Diskussion ist aber, dass man nur, wenn man selbst zumindest ansatzweise diese Erfahrungen teilt, nachvollziehen kann, worüber er redet – und vor allem, wie er darüber redet. Viele der Ideen McKennas würde man einfach als spinnertes Gelaber eines durchgeknallten Drogensüchtigen abtun, wenn man selbst nicht schon die Dimensionen gesehen hätte, von denen McKenna redet. Sicherlich ist seine Interpretation sehr spekulativ und extrem in jeder Form, doch gleichzeitig betont er immer wieder, dass es das persönliche Erleben ist, das zählt, die direkte Erfahrung. McKenna will eben keine Religion gründen, die auf Weitergabe aus zweiter oder dritter Hand beruht und nur von Priestern geleitet wird. So, wie man McKenna dann halt entweder für einen Spinner hält, oder für einen modernen Erleuchteten, muss man sich auch bei Halluzinogenen entscheiden, wie man ihnen gegenübersteht.

You either love them [hallucinogens] or you hate them, and that’s because they dissolve worldviews. If you like the experience of having your entire ontological structure disappear out from under you – if you think that’s a thrill – you’ll probably love psychedelics. On the other hand, for some people that’s the most horrible thing they can imagine. (S. 160)

Mir persönlich hat McKenna den Weg gewiesen, die Eindrücke, die man auf psychonautischen Reisen sammelt, zu interpretieren und für sich selbst zu nutzen – er ist ein Lehrer im besten Sinne, obwohl er körperlich nicht mehr unter uns weilt. Viele Drogen werden grundsätzlich negativ dargestellt in unserer modernen Gesellschaft, zum Teil gewiss, weil sie, wie eben zitiert, Fragestellungen aufwerfen, die strukturzersetzend wirken könnten, und das wird als gefährlich wahrgenommen. Doch die positiven Effekte dieser natürlichen Hilfsmittel zur Selbsterkenntnis, die es schon viel länger gibt als die Ratio, die wir so hoch schätzen, können einfach nicht unterbewertet werden. Eines der schönsten Zitate McKennas, das seine so weltbefürwortende Einstellung, seinen Humanismus so wunderbar demonstriert, möchte ich ans Ende dieses Artikels stellen. Lassen wir ihn einfach selbst sprechen.

Nature loves courage. You make the commitment and nature will respond to that commitment by removing impossible obstacles. Dream the impossible dream and the world will not grind you under, it will lift you up. This is the trick. This is what all these teachers and philosophers who really counted, who really touched the alchemical gold, this is what they understood. This is the shamanic dance in the waterfall. This is how magic is done. By hurling yourself into the abyss and discovering it’s a feather bed.

Wer mehr über ihn aus erster Hand, aus seinem eigenen Mund, erfahren will, kann sich seine Vorträge hier kostenlos anhören. Er war ein begnadeter, humorvoller Redner, dem man stundenlang lauschen kann. Terence McKenna darf nicht in Vergessenheit geraten, gerade in einer Zeit, die spirituelle Führung nötiger hat denn je.